Mohamed Idrissi wurde am 18. Juni 2020 in Bremen von der Polizei erschossen. Nur wenige Wochen zuvor waren Tausende Menschen in Bremen gegen Rassismus und Polizeigewalt auf die Straße gegangen. Umso lauter war das Schweigen über die tödlichen Polizeischüsse in Gröpelingen nicht nur innerhalb der Bremer Bevölkerung, sondern auch innerhalb der linken Bewegung. Wir fragen uns, warum ist das so?
Notwehr oder Ausdruck struktureller Gewalt?
Kurze Zeit nach den tödlichen Schüssen wurde in den sozialen Medien ein Video verbreitet. In dem Video wurde ein kleiner Ausschnitt des Tathergangs gefilmt. Es ist gut, dass es das Video gibt. Es verhindert, dass der Moment der Ermordung von der Polizei anders dargestellt werden kann, als er es war. Aber das Video bringt auch ein Problem mit sich. Weil es eben nur einen kleinen Ausschnitt dessen zeigt, was an diesem Tag passiert ist. Und weil einige Leute sich das Video anschauen und denken, sie könnten damit alles bewerten, was sie dort sehen. Aber das reicht nicht. Um zu verstehen, was am 18. Juni passiert ist, müssen wir uns die gesamte Geschichte anhören. Wir müssen uns Fragen stellen, bevor wir Antworten geben.
Warum wurde Mohamed Idrissi von der Espabau fristlos gekündigt? Warum war überhaupt Polizei vor Ort? Wer hat sie gerufen? Wer gab sich das Recht Mohamed Idrissi gegen seinen Willen mitzunehmen? Warum wurde nicht auf den sozialpsychiatrischen Dienst gewartet? Wo waren die Betreuer*innen? Wie verlief der Einsatz vor Beginn des Videos? Warum durften Nachbar*innen nicht mit Mohamed sprechen? Warum wurde der Einsatz nicht abgebrochen, als die Situation eskalierte?
Warum wird mit Pfefferspray auf einen psychisch kranken Mann gezielt? Wie starb Mohamed Idrissi? Was wurde nach den Schüssen unternommen, um sein Leben zu retten und was nicht? Wie ist die Polizei im Nachhinein mit den Nachbar*innen umgegangen? Wie gehen Behörden, Polizei, Politik seitdem mit den Angehörigen um? Und warum ist es so still in Bremen? Wenn wir uns alle diese Fragen stellen, dann ist die Frage um Notwehr hinfällig. Dann ist klar: Hier geht es um strukturellen Rassismus. Hier geht es um Polizeigewalt. Um die Stigmatisierung und Kriminalisierung von Menschen mit psychischen Erkrankungen. Und um die Folgen von Armut.
Die vielen Gespräche mit Bewohner*innen aus Gröpelingen haben uns deutlich gezeigt, dass es kaum eine schwarze, migrant*ische oder PoC gibt, die den Mord an Mohamed Idrissi nicht in Zusammenhang mit Rassismus und Polizeigewalt stellt und klar verurteilt. Fast alle knüpfen an ihre eigenen Erfahrungen an, an den eigenen Schmerz und die eigene Wut. Da braucht es keine Erklärung. Anders bei vielen weißen Bewohner*innen und eben auch einigen linken Genoss*innen. Hier wird häufig von Notwehr gesprochen, von Alternativlosigkeit des Handelns der Polizei, von der Notwendigkeit, den Fall differenziert zu betrachten, von juristischen Definitionen.
Mohamed Idrissi – das war Mord!
Wir sprechen von Mord, weil Mord genau das Wort ist, was unser Entsetzen, unsere Wut, unsere Trauer am besten ausdrückt. Wir lassen uns unsere Sprache nicht durch juristische Definitionen diktieren, sondern entscheiden selbst, welche Worte für uns passend sind und das, was wir fühlen und denken am besten ausdrücken können. Aber auch jenseits dessen, gibt es Gründe, von Mord zu sprechen. Denn die tödlichen Schüsse sind nicht im luftleeren Raum gefallen. Es gibt einen Vorsatz. Der Vorsatz steckt in jedem Baustein dieses gewaltvollen gesellschaftlichen Systems, das die Schüsse mit hervor gebracht hat. Und das insbesondere für schwarze Menschen und People of Colour so häufig tödlich ist.
Lasst uns deutlich machen, dass wir nicht schweigen, wenn die Polizei einen Menschen auf unseren eigenen Straßen erschießt. Dass wir an der Seite der Angehörigen stehen und mit ihnen für Aufklärung und Gerechtigkeit kämpfen.